Hartmut Richter, gerade 18 Jahre, wollte in den Westen und wurde erwischt. Jetzt war er wegen „Republikflucht“ dran. „Auf dem Weg zum Bahnhof waren wir mit Handschellen aneinandergekettet, Hundeführer begleiteten unseren Trupp“, erinnert er sich. Mit drei anderen wurde er in winzige Zelle gepfercht. Die Reise von Chemnitz nach Potsdam dauerte sechs Tage (!), da der Zug nicht direkt fuhr.

Richter war im sogenannten Grothewohl-Express. Einem Gefangenentransporter, der an normale Züge angekoppelt wurde und eine Rundreise von Gefängnisstandort zu Gefängnisstandort machte. Gerade im Sommer soll es unerträglich heiß in dem Zug gewesen sein. 

“Ost-und-Gemüse-Transporter”, der in Wirklichkeit Gefangene beförderte

Ein solcher Gefangenenzug steht auf dem Gelände der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Neben dem Waggon sind auch Lastwagen zu besichtigen, die zum Gefangenentransport eingesetzt wurden. Obst und Gemüse stand draußen dran, damit die Bürger nicht merken, dass gerade wieder eine „grüne Minna“ an ihnen vorbeifährt.

Die DDR-Führung und insbesondere das MfS waren sehr auf ihr Image bemüht. „Es muss alles demokratisch aussehen“, diese Devise Walter Ulbrichts wurde, so gut es ging, eingehalten. Das passt gut zu unserer Zeit, in der linksextreme Klassenkampfprogramme des Staates unter dem Deckmantel der sogenannten Demokratieförderung subventioniert werden.

Besuchergruppe im vergleichsweise modernen DDR-Gefängnis

Aber gut. Die Bundesrepublik ist nicht die DDR. (Noch nicht.) Wer die Schrecken des SED-Regimes vergessen hat oder erst nach 1980 geboren ist, dem ist das Museum in der Gensler Straße in Hohenschönhausen zu empfehlen. Ich war zum Tag der offenen Tür am 7. Juli da. All die schrecklichen Erinnerungen an den menschenverachtenden Charakter des Honecker-Regimes kamen wieder hoch.

Es begann mit einem Rundgang durch die Keller des Knastes. Dort wurden nach dem Krieg von den Russen Tausende eingesperrt. In winzigen Zellen, in denen zeitweise zentimeterhoch das Wasser stand. Es gab viele Selbsttötungen und noch mehr Morde durch die russischen Folterschergen. Etwa 1.000 Häftlinge sollen ums Leben gekommen sein. 

Alte Mini-Zelle im Keller

Der Führer meiner Gruppe hat das so anschaulich geschildert, das uns das Blut in den Adern gefror. Etliche töteten sich selbst, weil sie die Umstände nicht aushielten. Dazu gehört auch die psychischen und physische Folter bei den Verhören. Verhört wurde vorzugsweise nachts. Schlafentzug war ein beliebtes Werkzeug.

Der Zeitzeuge berichtete: „Die Russen haben die Drecksarbeit für das spätere SED-Regime gemacht.“ Viele DDR-Bürger seien so eingeschüchtert gewesen durch die ersten Jahre unter russischer Willkürherrschaft, dass sie später bei den harmloseren Methoden der SED dennoch pariert hätten, weil sich der Schrecken ins kollektive Gedächtnis eingegraben habe. (Witzig, dass ich später oben im Buchladen ein Kinder-Comic der Stiftung Aufarbeitung gekauft habe, in dem die Russen als nette, überwiegend harmlose bis gutherzige Menschen charakterisiert werden, die hungernden deutschen Kindern etwas zu essen geben. Gab es sicherlich auch, aber ist eben nur eine Seite der Medaille.)

Hofgang im “Tigerkäfig”

Dem schrecklichen Kapitel der Russen-Herrschaft folgt ein kaum weniger Schlimmes. Die DDR-Zeit kannte nicht mehr so viele Tote. Dafür wurde der Psychoterror und das ganze Gefängnis mit deutscher Gründlichkeit perfektioniert. In den 60er Jahren entstand das modernste Gefängnis Deutschland, so unser Führer. Im Knast galt Waffenverbot. Mit Knüppeln bewaffnete Wärter waren aber nicht weit, wenn einer angegriffen worden wäre. Als Alarm hing ein Kabel an der Wand, das jederzeit gezogen werden konnte. Alle Gänge waren vergittert und wurden aus einer Zentrale gesteuert. Es reichte nicht, einen Schlüssel zu haben, um die Tür zu öffnen. Eine Delegation aus Nicaragua war so begeistert, dass sie sich eine Kopie des Gefängnisses bei den Berliner Genossen bestellt hat. Exportschlager Gefängnis.

 Niemand sollte wissen, was in Hohenschönhausen passiert. Noch nicht einmal diejenigen, die drin waren. Nach außen alles hermetisch abgeriegelt. Die Anwohner werden sich ihren Teil gedacht haben. Aber die Insassen wussten in der Regel nicht, wo sie sind. Durch Milchglasscheiben wurde verhindert, dass die Inhaftierten rausschauen konnten. Sie sollten noch nicht einmal erkennen können, ob sie im Erdgeschoss oder einen Geschoss darüber sind.

Inhaftierte durften keinen Kontakt untereinander halten. Taten sie es doch, war die Gefahr groß, dass ein Stasi-Spitzel sie auszuhorchen versuchte. Auf dem Gang mussten sie sich vor die Wand stellen und die Augen schließen, wenn ein anderer Inhaftierter (mit seinem Aufpasser) vorbeikam. In einem Fall wurde einem Inhaftierten sein Sohn im Gang vorbeigeführt, damit er hinterher rätselt, warum der Junge wohl auch im Knast säße. Durch diese und tausend andere Tricks sollten die Gefangenen gefügig gemacht werden. Die Stasi presste so Geständnisse aus den Leuten raus.

Besonders skurril: Wer krank war, kam in einen Gefangenentransport ohne Fenster und wurde stundenlang in der Gegend herumgefahren. Dann kehrte der Wagen nach Hohenschönhausen zurück, und der Patient kam in den Krankenhaustrakt. Um dorthin zu gelangen, hätte er auch einfach fünfzig Meter laufen können. Aber die Machthaber hatten sich ausbaldowert, dass es besser ist, die Leute glauben zu lassen, dass das Krankenhaus woanders sei. So wurde die hohe Kunst der Verschleierung betrieben.

Hatte ein Gefangener gestanden, dann wurde ihm der „Prozess“ gemacht. Das Urteil stand sowieso fest. Danach kamen die Häftlinge also in „normale“ Gefängnisse wie Bautzen oder Potsdam. Der Stasi-Knast war ein Gefängnis für die U-Haft.

Marianne Birthler und Wolf Biermann vor seinem Auftritt

Am Ende kam Wolf Biermann. Der Liedermacher sprach mit Marianne Birthler und trug einige seiner Stücke vor. Ehrlich gesagt: Ich konnte mit ihm nie sooo viel anfangen. Ich mag Balladen nicht, und mir gefällt nicht, wie er immer so plötzlich aufbrüllt. Vor allem: Ich habe nie verstanden, warum er traurig darüber war, ausgebürgert worden zu sein aus der DDR? Statt sich zu freuen, dass er dem stalinistischen Großgefängnis entkommen war!

Aber das ändert nichts an seiner Lebensleistung. Seine Texte sind gut und anspruchsvoll. Er war und ist mutig. An die 1.000 Leute sind seinetwegen gekommen. Er widersprach Frau Birthler, dass es sich 1989 um eine Revolution gehandelt habe. „Denn wenn es eine gewesen wäre“, so Biermann, „dann würde Gregor Gysi heute nicht im Bundestags sitzen.“ Da ist was dran. Andererseits hat die Linke es bis heute nicht geschafft, wieder in Regierungsverantwortung zu kommen – jedenfalls nicht auf nationaler Ebene. Ob Revolution oder nicht – das ist ein semantischer Streit. Der Skandal ist jedenfalls, dass die Linke einfach die Arbeit der SED weitermachen konnte und kann. 1990 hätte die Partei aufgelöst gehört (hat neulich auch Theo Waigel im Spiegel gefordert – warum nur hat er es nicht gemacht, als er die Macht dazu hatte?). Allen Mitgliedern, MfS-Spitzeln etc. hätte ein Wiederbetätigungsverbot ausgesprochen werden müssen. Das Vermögen wäre zu beschlagnahmen gewesen. Leider ist das alles nicht passiert. 

Mit dem Tablet auf der Suche nach alten Stasi-Objekten

Auch das ist leider deutsche Kontinuität, dass Leute, die Verbrechen im Namen des Staates begehen, damit davonkommen. Nicht selten mit hohen Pensionen. So ist Politik, leider.

Der erste Zeitzeuge, der auf der Bühne war, sah das wohl so ähnlich. Er war als junger Mann 1986 beim Versuch erwischt worden, aus der Tschechei nach Bayern zu fliehen. Er wurde freigekauft, nachdem er seine Haft abgesessen hatte. An den 9. November und die Wiedervereinigung erinnerte er sich mit Freude, aber auch mit Angst, „weil ich befürchtete, was danach kommt“. In der Tat: Es hat keine richtige Aufarbeitung des SED-Unrechts gegeben. Viele Staatsbedienstete durften einfach weitermachen. Kaum einer vom MfS wurde bestraft. Auch im Westen hat kaum eine Aufarbeitung der eigenen Mitschuld stattgefunden: Wie konnte es sein, dass das MfS so viele IM im Westen hatte? Wieso hat der Westen den Osten regelrecht am Leben erhalten? Was ist mit all den angeblichen Menschenrechtsbefürwortern, die in der Dritten Welt Unrecht anprangerten, aber über die Pankower Machthaber lieber schwiegen? („Ratschläge sind auch Schläge“, hat ein führender Sozialdemokrat mal in den 80er Jahren von sich gegeben, als jemand von der CDU den DDR-Machthabern einen „Ratschlag“ erteilt hatte.)

Dieses Gefängnis sollte uns allen Mahnung sein. Wir müssen den Marsch in den Sozialismus stoppen, den wir schon wieder angetreten sind. Wenn es schon 1990 ff. keine richtige Aufarbeitung gab und in R2G-Berlin erst recht nicht gibt (siehe: Knabe-Rauswurf durch SED-Nachfolger), dann müssen wir tun, was wir können.

Großer Andrang beim Biermann-Konzert

Ich fordere, dass der Besuch des Knastes (oder eine andere Einrichtung wie Stasizentrale oder Teilweise Tränenpalast) Pflicht in der Oberstufe in Berlin wird. Jeder Schüler muss das einmal gesehen haben. Ich weiß: Solche Pflichttermine machen nicht immer nur Spaß, und bei vielen wird wenig bis nichts hängen bleiben. Aber wenn nur jeder zehnte Schüler zur Besinnung kommt oder etwas lernt, was er bis dahin nicht wusste, so wäre das ein großer Vorteil.

Eine Sache, die dazu beitragen kann, ist die Sonderausstellung “Stasi in Berlin”. Mit einem Tablet in der Hand werden die Besucher in einen Raum geführt, der eine riesige Berlinkarte ist. Auf dieser Karte werden über 4.000 Stasi-Objekte angezeigt, wobei die Ausstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Jeder Punkt ist ein Objekt, das genau unter die Lupe genommen werden kann. Zu vielen Punkten gibt es kleine Filme. Ich habe festgestellt, dass das MfS eine konspirative Wohnung in meiner Nebenstraße hatte. Nur 50 Meter von meiner Wohnung entfernt. So lange her, und doch so nah.

Ich werde in wenigen Tagen eine Veranstaltungsreihe mit dem Schwerpunkt SED-Vergangenheit/deutsche Teilung anbieten. Wenn es klappt, nehme ich Hohenschönhausen dabei mit auf. Wollen Sie mehr dazu erfahren? Tragen Sie sich in den Newsletter ein!