
Was für eine Verhandlung! Am Mittwoch tagte der neunköpfige Verfassungsgerichtshof in einem Hörsaal in der Freien Universität wegen der Chaoswahl vom September 2021. Die oberste Richterin Ludgera Selting trug ihre vorläufige Einschätzung vor, die für viele überraschend kam: Das Gericht zieht tatsächlich eine Wiederholungswahl in Erwägung.
Selbst Kristin Brinker und Uwe Kasper, unser Justiziar, hatten dies kaum in dieser Deutlichkeit erwartet. (Ich als Pessimist sowieso nicht.) Wenn das Gericht seine Einschätzung nicht revidiert, dann bekommen wir vermutlich Anfang 2023 einen neuen Urnengang,
Ich war neben meinen Unterlagen nur mit einer Wasserflasche und ein paar Pfefferminzbonbons bewaffnet zu der Verhandlung erschienen. Aber der lange Tag bei Gericht wurde nicht langweilig, und ich bekam auch weder Hunger noch Durst. Zu spannend war das, was ich dort erleben durfte.
Richterin Selting führte aus, dass nur eine vollständige Neuwahl die Fehler am Wahltag heilen könne. Landeswahlleitung und Senat hätten ihren Verfassungsauftrag vernachlässigt, nämlich die Organisation einer funktionierenden Wahl: „Sie sind diesen Anforderungen nicht gerecht geworden.“ Sie rechnete aus, warum die Zahl der Wahlkabinen zu niedrig kalkuliert und das Wahlchaos damit programmiert war.
In meinen Notizen schrieb ich in dem Moment das Wort „Systemversagen“ auf, auch wenn dies nicht ausgesprochen wurde. Frau Selting wurde noch deutlicher und führte aus, die lückenhafte Dokumentation lege nahe, dass dies alles nur „die Spitze des Eisbergs“ sei. Dass noch viel mehr Stimmen falsch oder nicht abgegeben worden seien. Kurz: „Die Integrität des Wahlergebnisses ist durch die Wahlfehler beeinträchtigt.“ Und diese Wahlfehler seien wegen mangelnder Vorbereitung aufgetreten.
Danach hörten wir noch die Argumente des Senats. Das wichtigste lautet: Es gab auch viele Wahllokale in denen es keine Vorkommnisse gegeben habe. Es sei unfair gegenüber den Wählern und Institutionen dort, wenn auch deren Wahlgang für ungültig erklärt würde. Dies war implizit ein Plädoyer für eine teilweise Wiederholung, nur in bestimmten Wahllokalen.
Teilweise wurden auch absurde Dinge behauptet. So trug die Mathematikprofessorin (!) und amtierende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann Folgendes vor: Es ginge ja nur um 9.000 Stimmen bei 1,8 Millionen Wählern. Dies entspräche 0,005 Prozent und sei nicht mandatsrelevant.

9.000 von 1.800.000 sind nur 0,005 Prozent? Echt jetzt? Ich habe es sofort im Kopf und danach nochmal mit dem Taschenrechner in meinem iPhone nachgerechnet: 9.000 durch 1.800.000 ist 0,005. Das entspricht aber 0,5 Prozent und ist damit eine mandatsrelevante Prozentzahl jenseits des Nanobereichs. Vermutlich ist es gut, dass Berlin inzwischen einen neuen Landeswahleiter hat. Hoffentlich kann er Prozentrechnung,
Später kamen auch einige Wähler zu Wort, die schlimme Dinge berichteten vom Wahltag, was nochmal untermauerte, wie groß die Dunkelziffer derjenigen ist, die auf die Stimmabgabe verzichtet haben: Alte Leute, die nicht länger stehend warten konnten. Leute, die zur Arbeit mussten. Der Senat sagt immer, es sei aber eine sehr hohe Wahlbeteiligung und insinuiert damit, viel mehr hätten es nicht werden können. Aber das ist ein Fake-Argument: Denn die Wahlbeteiligung war durch die Zusammenlegung mit der Bundestagswahl und den Volksentscheid besonders hoch. Es hätten gut und gerne 1-2 Prozent mehr Berliner ihre Stimme abgeben können. Zumindest theoretisch.
Absurd war auch der Auftritt mehrerer Bezirkswahlleiter, die allesamt für ihren Bezirk reklamierten, dort habe es überhaupt keine Probleme gegeben. Ja, im Nachbarbezirk, dort sei vielleicht unsauber gearbeitet worden, aber bei ihm da sei die Wahl einwandfrei verlaufen. Es war eine an Hybris grenzende Selbstgerechtigkeit. Besonders aufgefallen ist mir der Spandauer Bezirkswahlleiter, der keine Probleme gehabt habe. Da fiel mir diese Geschichte ein. Derselbe Mann, der mir vor Gericht weismachen will, dass alle tutto bene sei, gab in diesem Artikel zu, dass Stimmzettel zu spät ausgegeben worden sind.
Dazu passte die Sondersendung im RBB abends zur Verhandlung. Dort sprachen sie über alle möglichen Aspekte dieser Verhandlung, brachten O-Töne von Politikern wie Torsten Akmann (Staatssekretär) und Stefan Evers (CDU-Generalsekretär) und am Ende sogar ein Studiogespräch mit dem neuen Wahlleiter. Nur die klagende Partei (drei Buchstaben, beginnt mit A) wurde mit keiner Silbe erwähnt bzw. erst am Schluss, als es um die Wahlprognose ging. Das war echt schwach. Schmälert aber nicht die Tatsache, dass mit mit diesem Wahleinspruch Geschichte geschrieben haben könnten. Wie gesagt: Das Urteil steht noch aus. Ich will nicht in der Haut der Richter stecken, die jetzt bestimmt viele hektische Anrufe von oben bekommen…
Fazit: Mein (nicht sehr stark ausgeprägtes) Vertrauen in das Funktionieren der demokratischen Institutionen wurde zumindest teilweise wiederhergestellt. Ich hatte nach der Wahl versprochen, dass wir diese Sachen aufklären werden. Bitte schön, die AfD liefert!
PS: Danke an alle, die mitgeholfen haben. Auf dem Foto – kurz vor der Verhandlung aufgenommen – sind Andreas Otti, Rolf Wiedenhaupt, Michael Adam, Alexander Bertram, Dr. Kristin Brinker, Gunnar Lindemann und Uwe Kasper zu sehen.