Ein Mann versucht die Berliner Mauer zu überwinden – oft ein tödliches Unterfangen

Meine Mutter hatte in Ost-Berlin eine Arbeitskollegin, die eines Tages hinter vorgehaltener Hand berichtete, sie müsse an diesem Abend unbedingt den Fernseher einschalten. Dort sei vermutlich ihr Sohn in einer Dokumentation über geglückte Fluchtversuche zu sehen. Der junge Mann war mit seiner Freundin über die Ostsee nach Dänemark geflüchtet. Ein lebensgefährliches Unterfangen.

Die Arbeitskollegin hatte von der bevorstehenden Ausstrahlung des Berichts im Westfernsehen erfahren. Nur so konnte sie ihren Sohn und dessen Frau zu Gesicht bekommen. Nach der Flucht war kein persönlicher Kontakt mehr möglich, weil sie nicht in den Westen und er erst recht nicht in die DDR zurückreisen durfte.

Der 13. August bleibt ein schwarzer Tag

Was für eine verrückte Welt im Kalten Krieg! Wir ärgern uns heute über den Wahnsinn unserer Zeit mit absichtlich herbeigeführtem Wohlstandsverlust, Energiearmut, Zensurgesetzen, Messereinwanderung und Heizungsklau – und neigen dazu, zu vergessen, was frühere deutsche Regierungen ihren Bürgern an Gemeinheiten zugefügt haben.

Dafür steht der 13. August 1961 wie kein anderer Tag. Eine halbe Stadt und ein halbes Land wurden abgeriegelt. Verwandte, Freunde durften sich unter faktischer Androhung der sofortigen Hinrichtung nicht mehr treffen. Der massiv eingeschränkte Verkehr wurde intensiv gefilzt. Wer beim Fluchtversuch erwischt wurde, musste mit einer monatelangen Haftstrafe rechnen. Fluchthelfern drohten noch längere Strafen.

Und das alles, weil die Ost-Berliner Machthaber nicht einsehen wollten, dass ihr marxistisches Gesellschaftsmodell nicht funktioniert. Weil sie glaubten, die Menschen zu ihrem Glück zwingen und Menschenrechte mit Füßen trampeln zu können, weil dies ja einem übergeordneten Ziel – der Einführung des Kommunismus – diene.

Dieses dunkle Kapitel ist bis heute nicht abschließend geklärt. Noch immer tauchen Namen von Opfern und auch namenlose Tote auf. In Stasi-Akten, in privaten Berichten oder in Unterlagen aus dem Ausland. 

Offiziell geht der Senat von „mindestens 140“ Mauertoten allein in Berlin aus. Die Stiftung Berliner Mauernennt die Zahl 650 für alle an der innerdeutschen Grenze Umgekommenen, einschließlich derjenigen, die in der Ostsee ertranken. Bolschewikipedia nennt 612 nach dem 13. August 1961.

Wir müssen den Blick weiten auf alle Opfer des Grenzregimes

Das Berliner Mauermuseum sucht akribisch nach neuen Fakten und hat nun seine aktualisierte Statistik vorgestellt. Das Haus am Checkpoint Charlie listet alle Fälle, die irgendwie mit dem kommunistischen Grenzregime zusammenhängen. Also auch die 415 Opfer an der innerdeutschen Landgrenze vor dem 13. August 1961, die 85 Opfer der Luftbrücke oder die 88 getöteten DDR-Flüchtlinge, die an der Grenze von sozialistischen „Bruderstaaten“ wie Ungarn oder Bulgarien getötet worden sind. Das Mauermuseum kommt auf die unfassbar hohe Zahl von 1.922 Todesopfern, die „keine Endbilanz“ darstelle. 

Peter Fechter aus Weißensee starb im Kugelhagel, als er in den Westen fliehen wollte

In diesem Jahr kam etwa der Fall des Obermeisters der Transportpolizei Peter Schulze hinzu, der 1976 im Alter von 35 Jahren bei einem Fluchtversuch an der tschechischen Grenze von dortigen Soldaten nach einem Feuergefecht getötet wurde. Oder Raimund Günter Otto von Medwey und Helmut Ballentin, deren Leichen ebenfalls 1976 gefunden wurden. Die beiden stammten aus dem Westen und wurden seit 1975 vermisst. Die Todesursache ist nicht bekannt. Vielleicht wurden sie bei einem Fluchthilfeunternehmen gefasst und getötet?

Diese Arbeit ist wichtig und muss weitergeführt werden. Es geht nicht darum, eine möglichst hohe Zahl zu ermitteln, um die Verderbtheit des kommunistischen Systems nachzuweisen. (Das liegt sowieso auf der Hand.) Das Schicksal der Opfer darf nicht in Vergessenheit geraten. Es macht nur einen kleinen Unterschied, ob Berliner Schulkinder im Unterricht von 140 oder 1.900 Toten durch DDR-Grenzer erfahren. Viel wichtiger ist, dass die Mechanismen entlarvt werden und der Blick der nachfolgenden Generationen geschärft wird dafür, was außer Rand und Band befindliche Regierungen an Verbrechen vorzunehmen bereit sind. 

Mit meinen Parteifreunden Kristin Brinker und Martin Trefzer an den Mauerkreuzen vor dem Reichstag, August 2022

Bei aller Freude darüber, dass wir jetzt wir frei durchs Brandenburger Tor gehen können müssen wir auch dafür sorgen, dass staatliche Allmachtsphantasien nie wieder die Oberhand gewinnen. Neue Überwachungstechniken oder verrückte Ideologien deuten leider in die falsche Richtung. Künftig wird der Staat noch mehr Macht haben über die Bürger, die er – wie wir in der Corona-Pandemie erleben mussten – auszuspielen bereit ist. Ich sehe es als meine Pflicht an, diesen Trend aufzuhalten, wo immer es geht.

Das fiktive Foto eines Mauerflüchtlings wurde mit einer KI produziert.